Was wird aus den Bewertungsreserven der Lebensversicherungen? Ende 2012 sollte eine Gesetzesänderung kommen, die eine erst 2008 geschaffene Regelung weitgehend aufheben würde: Dass Kunden an Bewertungsreserven während der Vertragslaufzeit beteiligt werden müssen (Wikipedia-Link). Nach Protesten machte die Bundesregierung einen Rückzieher. Wie es nun weitergeht: völlig unklar. Klar ist hingegen die Position von Manfred Poweleit, renommierter Branchenanalyst und Chef des Map-Reports. In einem Gastbeitrag erklärt er hier in gewohnt bissiger Art und Weise, dass die meisten Leute Bewertungsreserven einfach nicht richtig verstehen. Here we go:
[dropcap]U[/dropcap]m stille Reserven (= Bewertungsreserven, AK) kann es gelegentlich sehr laut werden. Derzeit tobt in den Medien und in der Politik um diese selten richtig verstandene Buchhaltungsgröße eine heftige Schlacht zwischen den Jüngern des Verbraucherschutzes und der Versicherungswirtschaft. Diese wird gern in den Verdacht gesetzt, den Verbrauchern gigantische Geldmassen vorzuenthalten. Es soll um rund 75 Mrd. € gehen.
Stille Reserven sind ein Begriff aus der Bilanzierung. Steigt der Kurs eines Wertpapiers nach dem Kauf auf über den Kaufpreis, so nennt man diesen Buchgewinn „stille Reserven“, im Gegenzug spricht man von „stillen Lasten“, wenn der Wert unter den Kaufpreis sinkt. Bekannt wurde diese Debatte im jahrelangen Kursaufschwung an der Aktienbörse von 1982 bis 2000. In diesen 18 Jahren stieg der Aktienindex Dax von 500 auf über 8.000 Punkten. Ganze Generationen von Anlagenberatern und Jungredakteuren in Finanzredaktionen lebten in der Traumwelt, Aktienkurse könnten immer nur steigen.
Nur nachhaltige Bewertungsreserven sollten zählen
Es verbreitete sich auch die Furcht, die Versicherer könnten die Verbraucher um die Wertsteigerungen ihrer Aktien bringen und die vermeintlichen stillen Reserven im Stile des Räuber Hotzenplotz in die eigene Tasche stecken. Doch drei Jahre nach Ende des Aufschwungs war der Aktienindex auf rund 2.000 Punkte zusammengekracht. Viele Anleger, auch Versicherer, haben viel Geld verloren und sind im Umgang mit Aktien sehr viel vorsichtiger geworden. Mit Aktien kann man Geld verlieren. Und auch mit Immobilien wird man nicht automatisch reich. Vielleicht sollte man nur noch über „nachhaltige stille Reserven“ reden, wenn garantiert ist, dass die Buchgewinne nicht verloren gehen können.
Aktuell tobt schon wieder ein Streit um derartige Scheinreserven. In Deutschland sind die Zinsen dramatisch gesunken. Sparer, Versicherungskunden und auch Stiftungen haben darunter zu leiden. Wenn Zinsen sinken, steigen die Kurse festverzinslicher Wertpapiere. Dadurch entstehen wieder stille Reserven. Aber auch die sind wieder nicht nachhaltig. Denn der Käufer eines fest verzinslichen Wertpapiers bekommt bei Fälligkeit immer nur 100 € pro Stück wieder, egal ob der Kurs zwischenzeitlich auf 90 gefallen oder auf 110 oder 130 gestiegen ist. Das will aber kaum jemand hören.
Da ist es schon angenehmer, die Illusion zu verbreiten, in den Kellern der Versicherungswirtschaft lägen 75 Mrd. €, die auf Verteilung an die Kunden warten und immer mehr werden. Die nur in den Büchern stehenden „Bewertungsreserven“ sind in jüngster Vergangenheit besonders heftig angestiegen, weil die Zinsen schnell und tief gefallen sind. Während bei Aktien die Bewertungsreserven nur nachhaltig sind, wenn die Kurse nie wieder fallen können oder werden und bei Immobilien ähnliches gilt, zeigen die Märkte für festverzinsliche Wertpapiere: Nachhaltig sind Bewertungsreserven nur, wenn die Papiere nie bei Fälligkeit eingelöst werden und Zinsen immer weiter fallen oder tief bleiben.
Wehe, wenn die Zinsen wieder steigen
Eines darf beim Traum von Bewertungsreserven nicht passieren: Dass Zinsen wieder steigen. Die gegenwärtig kursierenden Zahlen von 75 Mrd. € Bewertungsreserven stammen aus dem 3. Quartal 2012, sind also für die kurzlebigen Finanzmärkte steinalt. Werden in Deutschland Zinsen nie wieder steigen? Das hätte der Finanzminister als Schuldenmanager wohl gern… Doch im ersten Monat 2013 ist die Umlaufrendite festverzinslicher Wertpapiere von 1,0 % auf 1,4 % gestiegen, die Kurse entsprechend gesunken. Finanzmarktexperten schätzen, dass sich von den vermeintlich 75 Mrd. € Bewertungsreserven rund 20 Mrd. € durch die Zinssteigerung im Januar wieder in Luft aufgelöst haben.
Die in jüngster Vergangenheit beobachteten Werte zeigen: Bei Zinsen um 3 % sind große Teile der Bewertungsreserven weg, ab etwa 4 % dürften sich die stillen Reserven in festverzinslichen Wertpapieren vollkommen in Wohlgefallen aufgelöst haben wie anno 2000 die Reserven in Aktien. Gut, dass Lebensversicherer trotz des Geschreis die Nerven behalten…
Gemäß den aktuellem Gesetz soll ein Teil der stillen Reserven bei Vertragsablauf realisiert werden. Dies ist aus meiner Sicht auch angemessen, da der einzelne Kunde (bzw. die Summe aller Kunden deren Verträge zu einem bestimmten Zeitpunkt ablaufen) eben mit seinem Beitrag die bestehenden festverzinslichen Wertpapiere finanziert hat. Somit hat er dann auch ein Recht auf eine entsprechende Beteiligung! Wohingegen Kunden die jetzt einen Vertrag neu abschließen aus meiner Sicht keinen unbedingten (moralischen) Anspruch haben, von den bereits seit langem bestehenden hoch verzinsten Wertpapieren zu profitieren. Dass diese Anschauung aus Sicht des Versicherungsgedankens nicht erfreulich ist und beim aktuellem Niedrigzinsniveau die Zukunftsfähigkeit der Lebensversicherung in Frage stellt, ist mir bewusst. Aber es kann doch nicht sein, das treue Bestandskunden am Ende der Vertragslaufzeit für das Weiterbestehen des Lebensversicherungsgeschäftes finanziell einstehen sollen. Neukunden können sich ja entscheiden, ob ihnen die aktuelle laufende Verzinsung genügt und genau so wie die Altkunden darauf hoffen, dass bei Vertragsablauf stille Reserven bestehen. Oder sehe ich das falsch? Dann bitte ich um Erklärung.
Die Versicherungsbranche kann gut die Nerven behalten. Sie hat doch schon längst einen Weg
gefunden, die gesetzlich gewollte zusätzliche Beteiligung an den Bewertungsreserven zu um-
gehen. Der im voraus deklarierte Sockelbetrag wird aus dem Schlussüberschuss herausgerech-
net, also realisierter Überschuss umgetauft. Damit kann man diesen Teil des Schlussüberschusses
zwar nicht mehr kürzen, deshalb sucht man dafür ein neues Werkzeug mit der geplanten Ge-
setzesänderung. Herr Poweleit müsste das eigentlich wissen. Im Moment läuft ein gigantisches
Ablenkungsmanöver von den bisher schon nicht gesetzeskonformen Praktiken.
Ergebnis: Den Lebensversicherern kann man nicht mehr trauen, einige Schüsse sind für die Ver-
sicherer und deren Sprachrohr GDV nach hinten losgegangen.
Der Kern des Problems ist doch ein ganz anderer: Nämlich, dass viele Journalisten und Verbraucherschützer gleuben (oder zumindest behaupten), dass Reserven, die nicht ausbezahlt werden, dann dem Versicherer (bzw. dem Aktionär) gehören. Tatsache ist jedoch, dass diese nach wie vor den Kunden gehören. Sie erhöhen dann die Leistung derjenigen Kunden, deren Policen später fällig werden. Dies ist im Regelfall gerechter, als kurzzeitige Buchgewinne denjenigen Kunden zu geben, deren Police zufällig genau dann abläuft, wenn solche Reserven gerade mal sehr hoch sind!
Interessant sind diese Ausführungen bestenfalls für Laien. Unvollständig sind sie dazu und können so leider wenig zur Erhellung der aktuellen Diskussion beitragen. Der Streit betrifft Kunden, die zum Zeitpunkt des Bestehens Stiller Reserven ihren Vertrag lösen, mithin also die Reserve realisieren und somit nicht zur Fälligkeit halten. Es geht also eigentlich um einen fairen Ausgleich tatsächlicher Gewinne und nicht Stiller Reserven. Außerdem ist die Aussage schlichtweg falsch, dass nach einem allgemeinen Wertpapierpreisrückgang keine stillen Reserven mehr bestehen. Wertpapiere werden selektiv und sukzessiv gekauft. Die Problemfelder sind sehr viel komplexer als hier dargestellt. Letztlich geht es um die Fragen der Natur der Kapitalversicherung, ihre Zukunftsfähigkeit, dem Problem, dass sich immer mehr Kunden vor Vertragsauslauf von diesem lösen und dem fairen Ausgleich zwischen ausscheidenden und verbleibenden Kunden.
Das ist alles soweit richtig, aber wenn ein Versicherungsvertrag wegen vorzeitiger Kündigung abgeht werden sicherlich deswegen keine Reserven realisiert. Im Normalfall hält eine Versicherung in Ihren Kapitalanlagen Tranchen von mindestens 10 Mio EUR (also nicht in Höhe eines Vertrages). Außerdem führt die Problematik um Solvency 2 dazu dass man die Laufzeit der Kapitalanlagen extrem erhöht um die Thematik des Duration-Mismatches zu mindern. Das ja bekanntlich sehr viel Eigenkapitalunterlegung mit sich bringt.
Im wesentlichen (ganz egal wie kompliziert diese Problematik tatsächlich ist) kann man sehr wohl unterstellen dass Kunden die an Ihrer Kündigung durch Bewertungsreserven mehr Rückkaufwert erhalten den Bestandskunden schädigen. Denn die Wiederanlage zu einem niedrigen Zins betrifft nur die Kunden die Ihre Versicherung vertragsgemäß beenden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es geht in der öffentlichen Diskussion gar nicht um Nachhilfe in Sachen Bilanzierung und wie stille Reserven oder stille Lasten entstehen. Auch wenn ich überzeugt bin, dass die wenigsten, die darüber diskutieren, wissen was sie sagen.
In der Diskussion geht es ausschließlich darum, wem solche Buchgewinne/Buchverluste zustehen. Und das ist ganz klar zu beantworten: den Versicherten!
Über die Frage wie nachhaltig solche Buchgewinne oder Buchverluste sind, steht auf einem ganz anderen Papier. Und da teile ich die Auffassung. Auch die Finanzkrise hat gezeigt das die Marktpreismethode nicht nur ihre Grenzen hat, sondern Schieflagen an den Vermögensmärkten beschleunigt! Die Frage ist, wie man dieses Problem löst. Die ursprünglich deutsche HGB-Methode war auch nicht des Rätsels Lösung. Die Lösung liegt wohl dazwischen. Das würde auch zu mehr Nachhaltigkeit bei den Lebensversicherern führen, wenn bspw. nur die Hälfte solcher Bewertungsreserven in Ansatz kommen. Dann bliebe genug Puffer für Korrekturen. Aber die Reserven/Lasten wären immer noch Eigentum der Versicherten.
Es wird auch oft vergessen, dass es bei bestimmten Vermögensanlagen zu stillen Reserven, gleichzeitig bei anderen aber zu stillen Lasten kommen kann. Hier sind die Bilanzierer gefragt, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, das nachhaltig ist – für Versicherer und Versicherten.